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Zur Wahrnehmung westlicher nationaler Kerninteressen sollte Kyjiw bei der Sicherung des Luftraums im ukrainischen Hinterland direkt geholfen werden — TAGESSPIEGEL

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Russlands Krieg in der Ukraine: Vier Gründe für eine Flugverbotszone — Der Tagesspiegel

Die Ukraine fordert seit Kriegsbeginn Flugverbotszonen, Verbündete lehnen die Forderung als „zu riskant“ ab. Dabei wäre genau das im ureigenen Interesse europäischer und anderer Staaten.

Kurz nach Beginn der russischen Großinvasion am 24. Februar 2022 bat Kyjiw den Westen um Flugverbotszonen über der Ukraine. Die NATO lehnte damals den Vorschlag Kyjiws als zu riskanten Schritt ab. Nach anderthalb Jahren Krieg stellt sich Mitte 2023 ein internationales Engagement zur Abwehr russischer Raketen und Drohnen zumindest im ukrainischen Hinterland in neuem Licht dar.

Westliche und andere interessierte Staaten würden mit der Schaffung von Verbotszonen für unbemannte Flugobjekte nicht nur einen ukrainischen Hilferuf beantworten. Russlands Terrorkrieg mit Langstreckenwaffen gegen die ukrainische Bevölkerung berührt Kerninteressen vieler Staaten außerhalb Osteuropas. Und zwar in mindestens vierfacher Hinsicht:

Erstens ist die Fähigkeit der Ukraine, weiterhin Nahrungsmittel zu produzieren und exportieren, nicht nur eine humanitäre und ökonomische Frage. Sie ist auch für die Aufrechterhaltung weltweiter Stabilität notwendig. Eine Verknappung und ein erneuter Anstieg der Preise für Grundnahrungsmittel hat schwerwiegende internationale soziale und politische Auswirkungen. Dazu gehören instabile Regierungen, Hungeraufstände, Migrationsströme, wachsende Fremdenfeindlichkeit sowie womöglich sogar Bürger- und zwischenstaatliche Kriege.

Der Einsatz nichtukrainischer Luftstreit- und Luftabwehrkräfte über der Ukraine zur Sicherung ihrer Nahrungsmittelproduktion und -beförderung ist nicht nur eine Frage von Solidarität. Ein solcher Out-of-Area-Einsatz von NATO- und anderen Staaten würde der Minderung allgemeiner Risiken für die internationale Sicherheit dienen. Die Verhinderung von Hunger und seiner zerstörerischen Folgen für die globale Ordnung ist alleine Grund genug, die Einrichtung von Flugverbotszonen über und um die Ukraine in Betracht zu ziehen.

Zweitens sind ukrainische Kernkraftwerke – einschließlich des stillgelegten AKWs Tschernobyl – wiederholt zu Schauplätzen, Instrumenten und Zielen russischer militärischer Aktivitäten geworden. Die von einem solchen Verhalten ausgehenden grenzüberschreitenden Risiken in ganz Europa sind offensichtlich. Wie bei der Sicherung einer stabilen ukrainischen Nahrungsmittelproduktion und -lieferung wäre auch hier das Kyjiwer Interesse am Schutz der Kernkraftwerke zweitrangig. Ein militärisches Engagement der NATO und anderer Verbündeter zur Sicherung ukrainischer Atommeiler berührt existentielle Interessen etlicher europäischer Staaten.

Drittens ist die Stadt Kyjiw seit Oktober 2022 Ziel allwöchentlicher russischer Raketen- und Drohnenangriffe. Ob beabsichtigt oder nicht, haben Russlands Langstreckenwaffen in der ukrainischen Hauptstadt wiederholt zivile Objekte beschädigt und Nichtkombattanten verwundet oder getötet. In Kyjiw befinden sich dutzende ausländische Botschaften sowie Büros zahlreicher internationaler Regierungs- und Nichtregierungsorganisationen.

Kurioserweise hängt die Sicherheit tausender Besucher und Entsandter aus NATO- und anderen Staaten vollständig vom ukrainischen Eisendom über der Hauptstadt ab. Diese Beamten sowie anderen ausländischen Steuerzahler können bisher weder auf dem Weg nach Kyjiw noch innerhalb der Stadt auf den Schutz von Flugabwehrkräften ihrer eigenen Länder zählen. Und das trotz der ausdrücklichen Bitte der ukrainischen Regierung eben hierum.

Last but not least beginnt derzeit der ukrainische Wiederaufbau mit Unterstützung ausländischer Instandsetzungs- und Entwicklungsprojekte. In den kommenden Monaten und Jahren werden Milliarden Euro und Dollar westlicher Steuergelder in die Entminung und Erneuerung der Ukraine fließen. Damit steigt das nationale Interesse westlicher und nicht-westlicher Staaten an grundlegender Sicherheit in der Ukraine. Die Frage des Schutzes international finanzierter ziviler Infrastruktur vor russischen Sprengköpfen dürfte immer dringlicher werden.

Zudem werden private Direktinvestitionen in die Ukraine trotz komplizierter Versicherungsfragen von vielen Beobachtern als Schlüsselfaktor für eine Wiedergeburt der Ukraine angesehen. Vor allem bei großen Büro- oder Fabrikgebäuden, die mit Hilfe ausländischer Unternehmen errichtet oder renoviert wurden, stellt sich die Frage nach deren Schutz vor russischen Luftangriffen. Regierungen derjenigen Länder, in denen sich die Sitze von in der Ukraine aktiven Unternehmen und deren Versicherer befinden, werden zunehmend unter Druck geraten, Kyjiw zu helfen ausländische Direktinvestitionen zu sichern.

Viele Beobachter sehen westlich unterstützten Flugverbotszonen über dem ukrainischen Hinterland als einen Weg in den Dritten Weltkrieg. Es ist jedoch unwahrscheinlich, dass es zu einer solchen Eskalation kommen würde, solange westliche Truppen nicht an der Frontlinie eingesetzt werden. Russland setzt bei seinen Angriffen im ukrainischen Hinterland keine bemannten Kampfflugzeuge ein. Wenn westliche Kampfflugzeuge und Flugabwehrwaffen russische Flugobjekte treffen, würden sie keine russischen Soldaten töten.

Eine neue diplomatische und öffentliche Diskussion der alten ukrainischen Forderung nach Flugverbotszonen ist notwendig. Sie muss rational Vorteile und Risiken der Umsetzung dieser oder jener Variante dieser Idee abwägen. Es braucht eine nüchterne Bewertung dessen, was für Flugverbotszonen über und um die Ukraine im ureigenen Interesse europäischer und anderer Staaten ist. Eine solche umfassend Einschätzung sollte das weitere Vorgehen einer Koalition unterstützungswilliger Staaten bestimmen.

https://www.tagesspiegel.de/internationales/russlands-krieg-in-der-ukraine-vier-grunde-fur-eine-flugverbotszone-10196455.html


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