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Interview: Führt ein Sieg Trumps zur “Neuzeichnung” der europäischen Landkarte?

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TOPSHOT – US President Donald Trump and Ukrainian President Volodymyr Zelensky shake hands during a meeting in New York on September 25, 2019, on the sidelines of the United Nations General Assembly. (Photo by SAUL LOEB / AFP) (Photo credit should read SAUL LOEB/AFP/Getty Images)

Interview: Führt ein Sieg Trumps zur “Neuzeichnung” der europäischen Landkarte?

a)     Wie schätzen Sie diese Besorgnisse osteuropäischer Politiker über einen Sieg Trumps ein?

Es gab in Osteuropa in den vergangenen 30 Jahren, anders als in Westeuropa, keine Gewöhnung an eine scheinbar heile Welt oder einen magischen Glauben an die politische Kraft von Friedfertigkeit. Die osteuropäische Erinnerung an zaristische und sowjetische Unterdrückung sowie westlichen Verrat an europäischen Werten ist zwar heute kaum noch lebendige Erinnerung. Dennoch wird die kollektive Wahrnehmung nationaler Sicherheit und internationaler Geopolitik in Mittelosteuropa bis heute vom Wissen etwa um den Molotow-Ribbentrop-Pakt 1939, die Aufteilung Europas in Jalta 1945 oder das Budapester Memorandum (mittels dessen die Ukraine nuklear entwaffnet wurde) von 1994 geprägt. Es gibt heute Vertrauen der Osteuropäer in die NATO, da die Allianz in Moskau als stark und entschlossen gefürchtet wird. Sollte sich der russische Respekt vor der NATO nach einem Sieg Trumps jedoch verringern, wären die mittelosteuropäischen Nationen sehr beunruhigt. Sie befürchten, dass sie dann wieder zu Russlands Freiwild werden – so wie es die Ukraine, Georgien und Moldau heute sind.

b)    Wie lautet Ihre Einschätzung zu der Frage, was ein Trump-Sieg für Osteuropa bedeuten würde bzw. ob und welche Folgen es hätte?

Eine klare Vorhersage ist schwer zu treffen, da Trump kein klares außenpolitisches Profil hat und psychisch instabil ist. Er gilt zwar als prorussisch, ja womöglich als von Putin mittels kompromittierender Informationen kontrolliert. Dennoch ist Trump aufgrund seiner Unvorhersehbarkeit auch ein Problem für den Kreml. So soll Trump kürzlich erklärt haben, dass – wenn er 2022 Präsident gewesen wäre – als Antwort auf Russlands Vollinvasion der Ukraine die Stadt Moskau bombardiert hätte. Viele Osteuropäer sind unzufrieden mit Biden und seiner Unentschlossenheit gegenüber Russland; jedoch ist Biden und die Demokratische Partei einschätzbar. Trump und seine Unterstützer gelten hingegen als Risiko. Die Funktionslogik der NATO als Verteidigungsallianz beruht auf Vertrauen, Klarheit und Voraussagbarkeit. Dies wird mit Trump als US-Präsident nicht mehr gegeben sein. Womöglich wird auch eine Niederlage Trumps bei den Präsidentschaftswahlen negative Auswirkungen auf das Funktionieren der NATO haben. Die USA könnten in inneren Konflikten versinken und außenpolitisch handlungsunfähig werden.

c)     “A Trump victory in 2024 would undoubtedly lead to the end of American support for Ukraine,” warnt Lt. Col. Alexander Vindman. Stimmen Sie dieser Aussage zu und was würde eine Niederlage der Ukraine für Osteuropa bedeuten?

Ich bin nicht ganz so pessimistisch wie Vindman, obwohl man sich selbstverständlich auf das Worst-Case-Szenario vorbereiten sollte. Europa muss sich auf ein Ende amerikanischer Hilfe für die Ukraine und Verwässerung der US-Sicherheitsgarantien im Rahmen der NATO einstellen. Allerdings würde Trumps auswärtiges Verhalten als nochmaliger Präsident weiterhin nicht nur von seiner instabilen Persönlichkeit und den schrägen Vorstellungen seines politischen Lagers bestimmt sein. Die Trumpisten können, auch wenn sie das Weiße Haus zurückerobern, amerikanische Institutionen und Traditionen nicht einfach übergehen. Daher sollte man sich zwar auf das Schlimmste vorbereiten, aber dennoch mit Hoffnung auf die Zukunft blicken.

d) Inwieweit könnte Trump als US-Präsident Putin in die Hände spielen?

Sollte – im schlimmsten Fall – die Ukraine keine US-Hilfe mehr bekommen und die Beistandsverpflichtung der Vereinigten Staaten unter Trump im Rahmen der NATO in Frage geraten, wird sich Europa schnell und grundsätzlich wandeln müssen. Eine Art europäische Rumpf-NATO müsste sich dann neu aufstellen. Sollte die NATO im Worst-Case-Szenario gar vollkommen verschwinden, würde sich die EU von einer lediglich wirtschaftlichen und politischen Gemeinschaft in ein Sicherheits- und Verteidigungsbündnis transformieren müssen. Mit Verleihung des EU-Kandidatenstatus an die Ukraine, Moldau und Georgien wurden die Union und ihre 27 Mitgliedstaaten 2022-2023 zudem mittelbare Teilnehmer von drei europäischen, bereits mehr oder minder blutigen Territorialkonflikten mit Russland. Auch schließen immer mehr europäische Staaten derzeit Sicherheitsabkommen mit der Ukraine ab, und die EU hat gerade ein gesondertes Sicherheitsabkommen mit Moldau unterzeichnet. Die Tragweite und Risiken der immer tiefer gehenden Involvierung der EU im postsowjetischen Raum würden wachsen, sollten sich die USA aus Europa zurückziehen. Das wäre eine Stunde der Wahrheit für den Kontinent und ein Prüfstand für die vielbesungene europäische Idee. Es stellte sich in den vergangenen 70 Jahren immer die Frage, ob es europäische Integration und gemeinsame Sicherheit nur gibt, weil und solange Washington seine schützende Hand über Europa hält. Wenn der amerikanische Schutzschirm wegfällt, könnte sich herausstellen, dass es nicht so weit her ist mit der Idee eines geeinten und solidarischen Europas. Die europäischen Staaten müssten in der NATO oder/und EU untereinander sowie in Bezug auf das sogenannte Assoziationstrio (Ukraine, Moldau, Georgien) eine Form und ein Maß von sicherheits-, außen- und verteidigungspolitischer Kooperation praktizieren, mit der sie bislang keine Erfahrung haben. Ob Moskau sich mit seinen Hegemonialansprüchen in Europa durchsetzen kann, wäre nach 70 Jahren keine Frage mehr primär an Washington, sondern abhängig davon, inwieweit sich die Menschen hier als Europäerinnen und Europäer mit allen daraus erwachsenden Folgen betrachten.


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