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Interview: Sollte die Ukraine westliche Waffen auch auf russischem Gebiet einsetzen dürfen?

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a) Können Sie das Zögern von Olaf Scholz bei dieser Entscheidung nachvollziehen oder sollte er sich Macron Entschlossenheit anschließen?

Die Zögerlichkeit von Scholz, anderen PolitikerInnen und auch etlicher ExpertInnen beruht auf einer grundsätzlichen Fehleinschätzung der Bestimmungsfaktoren russischer internationaler Verhaltensmodi. Heutige russische Außenpolitik – ob mit oder ohne militärische Mittel – will Ergebnisse erzielen, die der russischen Bevölkerung als Erfolge verkauft werden können. Das russische Regime ist zwar autoritär, jedoch von stabiler Unterstützung der Eliten und Bevölkerung abhängig. Putins Abenteuertum entwickelte sich im letzten Vierteljahrhundert vor dem Hintergrund, dass Moskaus militärische Aggressivität mehr oder minder ungestraft blieb bzw. sich westliche Strafmaßnahmen als Luftnummern entpuppten. Russlands äußere Aggressionen – ob nun in Georgien, Syrien oder der Ukraine – erzielten zumindest scheinbar Erfolge und hatten relativ geringe Kosten. Sie waren und sind bei den russischen Eliten sowie einfachen BürgerInnen mehr oder minder populär, wie Umfrageergebnisse zeigen. Ein Zurückschlagen der Ukraine mit westlichen Waffen auf russischem Territorium dürfte Putins bisherige und künftige Erfolgsbilanz in den Augen vieler Russen in Frage stellen. Es wird daher – trotz aller martialischer Rhetorik aus Moskau – die Aggressions- und Eskalationsbereitschaft des Regimes eher mindern als erhöhen.

b) Welche Gefahren sehen Sie als real, die Scholz als Argumente bringt?

Die Gefahr einer Eskalation der Spannungen zu einem gesamteuropäischen und nuklearen Krieg zwischen der NATO und Moskau ist natürlich gegeben. Diese Gefahr existiert allerdings schon seit 70 Jahren und war auch zu Zeiten eminent, als es weit mehr Atomsprengköpfe in Europa gab als heute. Wäre es in den 1950er Jahren nicht weise gewesen, auf Stalins Idee einer Herauslösung Westdeutschlands aus westlichen Strukturen einzugehen? Wäre dies damals nicht gute Friedenspolitik gewesen? Hätte man es der UdSSR in den sechziger Jahren nicht erlauben sollen, Atomraketen auf Kuba zu stationieren? War Kennedy damals nicht ein unverantwortlicher Kriegstreiber? Weitere ähnliche Beispiele ließen sich anfügen.
Noch ein Fall aus der jüngeren Geschichte: 2015 schoss die Türkei über Syrien in voller Absicht und vollkommen unverblümt einen russischen Kampfbomber ab. Beide russische Piloten kamen ums Leben. Die Antwort Russlands waren allerlei Drohungen und temporäre Wirtschaftssanktionen gegen die Türkei. Nach circa einem Jahr wurde das türkisch-russische Verhältnis jedoch wieder partnerschaftlich.

c) Inwiefern sehen Sie die Möglichkeit, dass Putin durch Sabotage oder eines Insiderjobs dem Westen Angriffe mit zivilen Verlusten auf russischem Gebiet “unterjubeln” könnte?

Solche so genannten False-Flag-Aktionen sind möglich, ja sogar wahrscheinlich. Der Prototyp dieser Taktik sind die mysteriösen Bombenanschläge in Moskau, Bujnaksk und Wolgodonsk im Herbst 1999, deren politische Rückwirkungen Putin im Frühjahr 2000 erstmals ins Präsidentenamt beförderten. Allerdings würde sich heute die Frage stellen, wie genau Russland auf selbstinszenierte, angebliche westliche Verbrechen an russischen Zivilisten reagieren soll.
Moskau wird auch weiterhin Ergebnisse erzielen wollen, die der Bevölkerung als Erfolge verkauft werden können. Ein russisches Hineinziehen des Westens in den russisch-ukrainischen Krieg würde die Kräfteverhältnisse in Osteuropa verändern und Erfolgsaussichten Moskaus verringern, ja wäre sogar im Interesse der Ukraine. Daher wird es der Kreml – bei aller martialischer Rhetorik – vermeiden, politische Spannungen mit dem Westen in Richtung direkter militärischer Konfrontation mit der NATO zu eskalieren.

c) Auch US-Außenminister Blinken deutet nun Flexibilität an, bei bestimmten Umständen den Einsatz westlicher Waffen auf russischem Gebiet zu nutzen. Wäre das ein Game-Changer für den Krieg, wenn die USA auch nachziehen?

Dies wäre zweifellos ein Schritt in die richtige Richtung, jedoch für sich genommen zu wenig, um den Kriegsverlauf prinzipiell zu ändern. Dazu bedarf es größere konzertierter Maßnahmen, also etwa eine Kombination bisheriger Ansätze mit der
– Lieferung effektiverer Waffen an die Ukraine (Kampfflugzeuge, Taurus-Marschflugkörper usw.),
– Konfiszierung der eingefrorenen russischen Finanzmittel sowie ihre Übergabe an die Ukraine,
– Verschärfung der Wirtschaftssanktionen gegen Russland und seine Handels- sowie Investitionspartner,
– Übernahme des Luftschutzes der Westukraine durch die NATO sowie
– Stationierung ausländischer Truppen williger Partnerländer im Hinterland der Ukraine.
Ein solches Gesamtpaket würde nicht nur den Kriegsverlauf ändern, sondern Moskau die Aussichtslosigkeit bzw. Risikohaftigkeit weiterer Eskalation demonstrieren. Militärische Erfolge wären dann für Putin kaum noch möglich. Damit wäre der Weg zu sinnvollen Friedensverhandlungen der Ukraine mit Russland frei.


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